Theaterstück. Szenen aus Gusen
UA Semaine du Théâtre Autrichien à Paris 2009
Die Zitate aus Briefen, Zeugenberichten und zeitgeschichtlichen Dokumenten sind authentisch.
Prolog
PROJEKTION
Werbeplakat der Firma Topf: „Öfen für Krematorien“
Das Bild einer Idylle. In der Mitte steht ein schloßartiges Gebäude. Es liegt in einem Park, von Bäumen umgeben. Im ruhigen Wasser des Teichs spiegelt sich die Fassade.
Ein Mann, Kleidung und Frisur 1939, diktiert einen Brief:
Mann: Unser 1878 in Erfurt gegründetes Unternehmen Topf & Söhne verfügt über konkurrenzlos große Erfahrung. Bereits 1914 sind wir in den Bau von Einäscherungsöfen eingestiegen und seither marktführend geblieben. Die Konstruktionsweise unserer Öfen berücksichtigt die Pietätskriterien und gesetzlichen Vorgaben einer würdevollen Feuerbestattung in hervorragender Weise. Topf-Einäscherungsöfen funktionieren rauchfrei und geruchlos, der Körper des Toten wird vor den Flammen aus der Feuerung bewahrt und nur der hocherhitzten Luft ausgesetzt. Auf ausreichend Sauerstoff und genügend Zeit wird sorgsam geachtet, sodaß der Leichnam zu feinster Asche zerfällt. Eingriffe in den Vorgang der Einäscherung sind ausgeschlossen. Die Überreste des Verstorbenen bleiben jederzeit identifizierbar und können anschließend individuell bestattet werden.
DUNKEL Musik
Die lyrischen Passagen stammen aus Jean Cayrols Lyrikband „Alertes Aux Ombres“ geschrieben 1944/45 in Mauthausen-Gusen.
PROJEKTION
Aufblende. Bilder einer Videokamera. Subjektive Kamera, im Gehen aufgenommen, verwackelt.
Straße. Ortstafel: GUSEN. Es ist früher Morgen, Dämmerlicht. Während es auf der Bühne hell wird, verblasst der Film.
Straße. Gasthaus, geschlossen. Menütafel: GEBACKENER SEELACHS UND ERDÄPFELSALAT.
Im Fenster ein auf Leinen gestickter Spruch: WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN.
Das Mädchen Eve kommt die Straße entlang. Sie bleibt stehen, holt eine Landkarte heraus und studiert sie.
Jean steht beim Gasthaus und liest die Menütafel. Er sieht Eve an. Sie entdeckt ihn.
Jean: Guten Morgen.
Eve: Guten Morgen. Gusen, so heißt der Fluß, an dem ich gestern geschlafen habe. Dieses Dorf heißt auch Gusen. Aber ich finde es nicht auf der Landkarte.
Jean: Der Ort Gusen wird nur selten genannt.
Eve wirft ihm einen aufmerksamen Blick zu, aber sie verlangt keine Erklärung und er spricht nicht weiter.
Jean: Sie sind auf einer Reise?
Eve: Ich gehe zu Fuß, ich komme von weit.
Jean: Wo liegt das Ziel?
Eve lacht und zuckt die Achseln.
Eve: Ein Ort, der nicht genannt wird. Eine Stimme, die ich schon im Schlaf gehört habe. Sie schreiben Gedichte?
Jean lächelt.
Eve: Hier ist es schön. Ein schönes Land. Der Fluß und die Hügel. Ein Dorf zum Verlieben.
Jean: Das Besondere an diesem Ort ist der Steinbruch.
Eve: Ein Steinbruch?
Jean: Der Stein ist Granit. Grau und blau und rauchfarben, schwarz und lila, in jeden Licht sieht er anders aus. Manchmal sieht man die Farbe des Blutes, manchmal, wenn es schneit.
Eve: Sie sind hier zu Hause?
Jean: Ich bin schon lange hier und werde nicht mehr fortgehen. Früher glaubte ich, ich könnte in meine Heimat zurück, nach der ich mich sehnte, doch dann stellte sich heraus, daß ich keinen anderen Ort mehr besitze als dieses Dorf. Seitdem kämpfe ich nicht mehr dagegen an.
Eve: Ihre Heimat?
Jean: Eine Stadt, die Stadt, in der ich geboren wurde, Bordeaux. Paris, dort habe ich viele Jahre gelebt. Aber es ist keine Nacht vergangen, ohne daß ich hierher zurückkehrte.
Eve: Ich kenne diese Stadt. Schade, daß wir uns nicht früher begegnet sind. Bordeaux. Ich hatte dort etwas Seltsames bemerkt, eine Luftspiegelung. Es war vor einer Kirche. Mittags, ein Antiquitätenmarkt. Ich aß Couscous mit Lamm und trank Wein. Ich trank vielleicht zuviel Wein, er hieß Concorde. Und dann sah ich etwas, eine Figur, eine Frauengestalt vielleicht. Die Leute lachten mich aus. Ich habe vergessen, wie die Kirche hieß. Vielleicht hatte es etwas zu bedeuten. Wenn Sie dagewesen wären…
Eve sieht Jean an.
Jean: Ich hätte vielleicht auch gelacht.
Eve: Und trotzdem hätten Sie mich verstanden.
Jean: Das denkt man oft. Für gewöhnlich handelt es sich um eine Illusion. Es gibt nicht viele wie Papa Gruber.
Eve: Wie?
Jean: Menschen sind keine Engel.
Eve: Nein.
Jean: Nur manche…
Pause.
Eve: Wie heißen Sie?
Jean: Jean.
Eve: Ich bin Eve Marie.
Jean: Bon jour, Eve Marie.
Eve: Lebe wohl, Jean.
7. Szene. Collage von Ton – Licht – Wort
PROJEKTION Im Steinbruch.
Der Filmstill bleibt blass auf der Projektionsleinwand sichtbar.
Hackenschläge, Eisen auf Stein. Ein Peitschenknall. Laufende Schritte. Schnelle Atemzüge. Wind rauscht.
Stöhnen, Flüstern. Vielstimmig ein Wort: „Arbeit!“ Ein Kanon in verschiedenen Sprachen: deutsch, französisch, polnisch, italienisch, flämisch, holländisch, russisch, serbokroatisch…
Über die dunkle Bühne springen Lichtpunkte, Taschenlampe in der Dunkelheit, Reflexionen von Sonnenlicht.
Eindringlich gemurmelte, unverständliche Sätze. Dann Stille.
DUNKEL. Eine Stimme:
Stimme aus der Dunkelheit: Er schaute gern aus dem Fenster und beobachtete die Arbeiter im Steinbruch. Wenn er einen Moment der Untätigkeit feststellte, sprang er auf sein Motorrad und raste zu der Stelle hin. Schlendrian und Faulheit waren ihm verhasst. Wenn er den Häftling erwischte, zog er ihn zur Verantwortung. Er besaß ungemeine Körperkräfte. Mit einem Schlag ins Gesicht brach er gewöhnlich den Kiefer.
Musik
Le Figaro, Vorankündigung November 2009
Vendredi 20 novembre, c’est Anges de midi de Susanne Ayoub que l’on entendra. Une traduction de Henri Christophe (le nom de traducteur de Heinz Schwarzinger) d’un texte qui date de 2009. L’auteur est née à Bagdad en 1956 et vit depuis six ans à Vienne. C’est un auteur de romans, de poèmes, qui a énormément écrit pour la radio comme pour le théâtre, composé des scénarios, donné des tribunes aux journaux. Une femme très engagée qui a fondée sa propre compagnie de théâtre, Trio et qui a été récompensée par de nombreux prix.
Mittagsengel avait signé un court métrage, Mai à Mauthausen qui s’inspirait de la même figure, Jean Cayrol qui avait été interné en 1944 à Gusen, un camp de concentration près de Mauthausen, comme jeune résistant. Protégé, caché par ses camarades co-détenus sous la table de l’atelier, il écrit. Cinquante ans plus tard, Jean Cayrol publie ces textes : Alerte aux ombres.
C’est de ce destin et de ces textes que s’inspire Susanne Ayoub.