Das Hörbuch zu meinem ersten Roman „Engelsgift“ ist wieder auf dem Markt. Neu aufgelegt vom dänischen Saga Egmont Verlag (Kopenhagen 2021).
Link zum Download: https://audioteka.com/de/audiobook/engelsgift
Armut ist der Druck von zu engen Schuhen, weil Kinderfüße zu schnell wachsen. Armut ist Kranksein ohne Medizin, das Arzthonorar unerschwinglich.
Armut ist eine Klostersuppe, ein Platz am Tisch der Wohltätigkeitsanstalt, wo die Bedürftigen im Sitzen schlafen. Sie haben kein Bett. Armut ist das Glücksgefühl in den erstarrten Fingerspitzen, die sich an einem Feuer wärmen dürfen in einer kalten Winternacht. Armut ist ein Armengrab.
Armut ist, wo die Romantik kein Zuhause hat, nur Schmerz und dunkle Wut gegen die anderen, die alles haben und es dir vorenthalten, als ob du nicht das gleiche Recht auf Überleben hättest wie sie.
„Als kleines Mädchen habe ich mir gern ausgemalt, wie es wäre, arm zu sein. Richtig arm, wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Hänsel und Gretel oder Sterntaler, frierend und hungrig und ganz allein in der Welt“, sagt Marie Horvath. Sie kann sich das Kind mit den nackten Füßen in den viel zu großen Holzpantoffeln vorstellen, aber nicht, dass es keine anderen Schuhe besaß.
Ich spule den Schicksalsfaden zurück, von mir zu Karoline, zu ihrem Anfang, der auch nur eine Fortsetzung ist. Lotte Loew im Bahnwärterhäuschen am Fenster, träumend wie der stumme Gemahl über seinen Briefmarken, zwei Enttäuschte an der Wiege meiner Mutter, auch sie verdienen meine Aufmerksamkeit, auch sie hatten Gründe, ihre Beweggründe, auch sie setzen fort. Der Spielball der Schuld wird zurückgeworfen von Generation zu Generation, bis sich die Spur in der Vergangenheit verliert, in gesichtslosen AhnenIn dem kunstvoll gewirkten Gewebe, verkettet von Begegnungen und Umständen, gerissen, geknotet, geflickt, suche ich meine Geschichte. Und Marie Horvath, das Kind ihrer Zeit, hört zu, gespannt und auch ungeduldig, weil ich mich immer weiter entferne von dem, was sie das Eigentliche nennt, Story, Skandal, das Unerhörte von Karolines Verbrechen.
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Dass Kritsch Karoline an Tochterstelle aufgenommen hatte, war kein leeres Wort. Abends, hinter verschlossenen Türen, ließ er sie in Kleinmädchenkleidern auftreten, er flocht ihr langes Haar zu Zöpfen und hängte ihr eine Schultasche auf den Rücken. Dann griff er ihr ins Höschen und erregte sich an ihrem gespielten oder auch nicht gespielten Widerstand. Alle wussten es, niemanden kümmerte es. Karoline selbst schien zufrieden mit ihrer Lage.
„Er wollte sie bilden und erziehen, einen ordentlichen Menschen aus ihr machen, der in seinen Gesellschaftskreisen verkehren konnte, als Ebenbürtige an unserem Tisch sitzen, aber das kam natürlich nicht in Frage, das ging uns denn doch zu weit.“
„Zur Sache, Herr Kritsch.“ Der Untersuchungsrichter klopfte ungeduldig auf den dicken Akt auf seinem Schreibtisch. „Haben Sie etwas zu sagen, das zur Aufklärung der Verbrechen beiträgt? Ich habe mir den alten Obduktionsbericht kommen lassen. Moritz Kritsch war siebzig. Hoher Blutdruck, verkalkte Herzkranzgefäße, Übergewicht, Todesursache Gehirnschlag. Das Gutachten lässt keinen Zweifel darüber, dass Ihr Vater eines natürlichen Todes gestorben ist.“
„Kaum dass er eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte! Kommt Ihnen das nicht bekannt vor, Herr Rat? Und keiner hat in diesen Fällen Verdacht geschöpft, nicht bei der Tante, nicht bei der Untermieterin, nicht wahr?“ Verschwörerisch beugte sich Johann Kritsch dem Untersuchungsrichter entgegen. „Ich weiß, es war nicht Gift, das haben wir damals bereits feststellen lassen. Aber sie hat ihn in den Tod getrieben, ihn aufgereizt und aufgegeilt, bis sie ihm das Lebenslicht ausgeblasen hat, genau so, als ob sie selbst Hand an ihn gelegt hätte! So eine gewissenlose Verbrecherin ist sie!“
„Machen Sie sich auf das Ende gefaßt“, sagte der Arzt, den Karoline in aller Eile mitten in der Nacht an das Krankenlager ihres Mannes rief. „Es ist keine Hoffnung mehr.“
Karoline trug noch das Schulmädchenkleid, in dem sie für Kritsch aufgetreten war, das kurze Röcken mit der weißen Spitzenunterhose darunter, die im Schritt geöffnet war und ihr rotes Schamhaar aufblitzen ließ, wenn sie sich vorbeugte.
„Du bist krank. Der Doktor sagt, du brauchst Ruhe“, hatte sie protestiert. „Trink deine Bouillon, du hast es versprochen, Kritsch.“
Aber ihm stand der Sinn nicht nach Suppe, er fühlte das Ende nahen und krallte sich mit letzter Kraft am Leben fest. „Einmal noch, mir zur Freude. Tu es für mich, mein Lieb“, bettelte er, und so schlüpfte Karoline widerwillig in die engen Kinderkleider und wandte ihm ihre Hinterseite zu. Er griff zwischen ihre weißen Schenkel, aber dieses Mal war es nicht mehr die Lust, die ihn keuchen und japsen ließ, sondern der Tod, der seine unerbittliche große Hand auf sein Herz preßte.
Karoline lief, wie sie war, Hilfe zu holen, und bemerkte in ihrem Schrecken nicht einmal den anzüglichen Blick des Arztes. Sie kniete neben Kritschs Bett und legte ihren Kopf in seine gelähmte Hand. „Verlaß mich nicht, wie soll ich leben ohne dich, komm zurück, Kritsch, Liebster, mein geliebter Mann!“
Der Arzt verzog abfällig die Miene vor diesem Schauspiel. Wie jedermann wußte er, daß Karoline nur auf den Tod des Alten lauerte, den keiner bedauerte, hatte er doch geerntet, was er gesät. Karolines Verschwendungssucht, ihre Gier nach Schmuck und Kleidern und Pelzen, die mit jedem Jahr anwuchs, die Kritsch in den Ruin getrieben hätte, wäre ihm nur genügend Zeit verblieben.
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Der Schmerz packte Karoline. Er fuhr an ihrer Wirbelsäule entlang, durchdrang die Muskeln und das zarte Fettgewebe, wühlte in den Schlingen des Darmes und durchflutete schließlich ihren ganzen Leib. Als die Welle verebbte, weil das Hindernis, das sie so gewalttätig ans Licht drängen wollte, nicht von der Stelle wich, wimmerte sie vor Schwäche und Erleichterung. Im Himmel über ihrem Kopf zuckten die Sterne. Ein Kleid raschelte neben ihrem Ohr, eine Hand wischte den Schweiß von ihrer Stirn. Sie roch Essig, der ihre Schläfen beleben sollte, Desinfektionsseife an der Hand, die den Schwamm an ihr Gesicht presste. Die Decke über ihrem gequälten Körper wurde von ihr gezogen. Sie wich zurück vor den kundigen Fingern, die in sie drangen, tasteten, prüften. Sie weckten den Schmerz, der still auf diesen Augenblick gelauert hatte und nun mit tausend Zähnen in ihr Fleisch biss.
„Nein“, schrie sie auf. „Nicht noch einmal. Ich kann nicht mehr!“ Aber die große Flut war schon in ihr und brach sich an dem Hindernis und zerrte und riss an ihr. Sie hörte, fremd, gellend, einen Sirenenton, der an der höchsten Stelle brach, zu einem atemlos würgenden Gurgeln herabsank, ihre eigene Stimme.
„Atmen Sie ruhig. Tief aus und ein. Nicht weinen, das kostet nur Kraft.“
Dann war kein Atem mehr da, nur eine wütende Sonne in ihren Eingeweiden, die ein großes Feuer entzündete, sie versengte, verbrannte. Nicht mehr hinaus drängte die Welle, sie warf sich tobend hin und her, um das Hindernis in Bewegung zu setzen, die große Sonnenkugel selbst. Das Hindernis, die Höllenqual, das Kind. Ihren Sohn. Mich.